von Corinne Schatz, Kunsthistorikerin
Tun (Leo Brunschwiler) Ein leerer Raum - wartet. Eine Geige erklingt und füllt den Raum. Mit Tönen in die Luft zeichnen, unsichtbare Zeichen, die vergehen. Der Klangzeichner hört den Raum, der Raum gehört jetzt ihm. Erste Schritte in einem neuen Atelier, in einer neuen Stadt. Abtasten und Aneignen. Die Angst vor der Leere, täglich neu. Die Leere des Raumes und die Leere des Papiers. Ist ein kleines Blatt weniger leer? Viele kleine Blätter fügen sich zu einer wandfüllenden Zeichnung, zittern im Lufthauch und füllen den Raum mit ihrer Bewegung. 'Leben heisst tun und alles vergessen', schreibt Leo Brunschwiler, 'unbewusste Erinnerung ist Ballast, bewusste Erinnerung ist Quelle'. Mit diesem Grundsatz begann er nicht nur seine Arbeit in neuen Atelier in Zürich, sondern diesen Zustand sucht er jeden Morgen neu, um sich zu öffnen, um frei und ohne bestimmten Vorsatz die Arbeit zu beginnen. Im noch ganz unberührten Raum griff er zuerst zu ganz kleinen Papieren (ca. 7 x 10 cm), schuf unzählige kleine Notizen, die mit Nadeln vor die grosse wand geheftet, aus der Mitte herauswachsend sich nun zu einer grossen Komposition fügen. Das Lichte und Ephemere dieser Vielzahl kleiner, transparenter Blätter wird gesteigert durch ihr leichtes Zittern. Lust am Experimentieren kennzeichnet den Neubeginn in Zürich und zeigt sich auch in den grösserformatigen Zeichnungen. so zeichnet Leo Brunschwiler mit einem Bündel Stifte gleichzeitig, wodurch ihm die Sicht auf das Entstehende verdeckt wird, zeichnet blind, rollt die Minen über das Papier, zertrümmert sie und zerquetscht sie, wühlt mit dem Graphitstift in der Ölkreide, bevor er ihn benutzt. Vieles ist nur beschränkt kontrollierbar, die Resultate, die Spuren, die auf den Blättern zurückbleiben nicht ganz vorhersehbar. Der Künstler versucht sich ganz auf die Situationen einzulassen, zu entdecken, z.B. was geschieht, Wenn er mit einer aussen bereits angetrockneten Ölkreide zeichnet. Mit dem Zufall oder 'mit dem, was mir zu fällt' arbeiten ist Brunschwilers Ziel. So entstehen Zeichnungen in einer Art automatischer oder meditativer Schrift. Auf die Eigenarten der Zeichenmaterialien, aber auch auf die vielfältigen Eindrücke aus der Umwelt reagiert der Künstler wie ein Seismograph mit einer assoziativen Zeichenschrift. Nicht direkt Gegenständliches, sondern eher deren bruchstückhafte Erscheinungen, Licht, Bewegung, Geräusche und des Zeichners innere Reaktionen werden aufgezeichnet. Die Bilderflut, ja ganz allgemein die Flut der Reize, die alle Sinne ständig bestürmt, wird in dieser psychisch, nicht rational, gelenkten Schrift- oder Zeichensprache veranschaulicht. Die Surrealisten, aber auch John Cage und Zen scheinen Pate zu stehen bei dieser Arbeitsweise. Es ist die Simultaneität all der verschiedenen Wahrnehmungen der Aussen- wie der Innenwelt, die hier zum Ausdruck gebracht wird. Während die kleinen Blätter (20 x 28 cm) vor allem von dieser unmittelbaren Spontaneität leben, treten in den grösseren Zeichnungen (55 x 75 cm) Wechsel und Wiederholungen auf, die das scheinbare Chaos strukturieren und rhythmisieren. Immer wieder ist man versucht, die Musik und ihre Begriffe für die Beschreibung von Brunschwilers Arbeiten einzusetzen, Rhythmus, Kontrapunkt, Fülle und Flüchtigkeit, ja sogar die formale Gestalt moderner Partituren erscheint Verwandtschaften zu haben. Doch können die Zeichnungen nicht im Sinne von interpretierenden Umsetzungen gelesen werden, vielmehr verbindet sie mit der Musik ihre Flüchtigkeit, ihr Ausgreifen in den Raum, ihre Rhythmik. Der Bildträger, Transparentpapier, trägt wesentlich zu diesen Wirkungen bei. Häufig entsteht der Eindruck, das Blatt sei vorne und hinten bemalt, die Zeichnungen entwickeln eine Räumlichkeit und Mehrschichtigkeit, die rein auf der Wirkung der Materialien selbst, der unterschiedlichen Verbindungen, die Farbe und Farbträger miteinander eingehen, beruhen. In früheren Zeichnungen, gerade auch in den wandfüllenden Arbeiten und in den direkt auf die Wand gemalten Werken, wurden häufig Assoziationen zu Landschaften wach. Man durchwanderte die Bildflächen wie ein Spaziergänger die Natur. Nun jedoch treten keine konkreten Elemente mehr auf, der Raum erscheint ganz abstrakt als visueller Eindruck von Tiefe und Höhe, von Versinken hinter der Fläche und Hervortreten vor die Fläche des durchsichtigen Papiers. Einzelform und Gesamtform sind gleichbedeutend. Die Immaterialität des Bildträgers lässt den Farben, den Linien und Kritzeleien, den Knäueln und Flecken Freiraum sich auszudehnen, sich zu lösen. Manchmal erscheinen diese Blätter, als ob sie sozusagen als Projektionsfläche auffingen,was an Linien und Zeichen unsichtbar schon in der Luft schwebt, wie Musik, die bereits verstummt ist, aber noch nachklingt. Sie fallen dem Künstler zu, er fängt sie ein und bringt sie zu Papier, hält sie fest und macht sie sichtbar. 'Gleichgültigkeit - die gleiche Gültigkeit zeichnen mit gleicher Gültigkeit' (27.03.1994), notiert sich Brunschwiler und umschreibt damit seine Arbeitsweise, welche aus einer bewusst gesuchten meditativen Offenheit hervorgeht. Der Künstler macht sich zu einem Werkzeug seines Makro- und Mikrokosmos, registriert, was um ihn und in ihm sich bewegt. Seine Zeichnungen sind die Schnittstellen, wo sich die Welten begegnen, und erzählen von ihren Berührungen. Corinne Schatz, Juni 1994
|