Leo Brunschwiler

Papiere streichen wie die Saiten des Instruments

Zu den Zeichnungen von Leo Brunschwiler

von Peter Röllin


lnternationale Musikfestwochen Luzern
Osterfestspiele 1999

Papiere streichen wie die Saiten des Instruments

Zu den Zeichnungen von Leo Brunschwiler

Der Künstler, der mit seinen zeichnerischen Be-Tonungen zum
einleitenden Introitus im diesjährigen Programmbuch der Osterfestspiele
ansetzt, wohnt in einem peripheren Quartier der Stadt Zürich. Nach
seinem Arbeitsgang und der energetischen Aufladung in Zürichs früh
anbrechender Rush-hour mit Tram und S-Bahn quer durch die Stadt ins
Industriegebiet Binz beginnt er Tag für Tag die Arbeit mit Zeichnen, sucht
den Tag und die Einstimmung über das Zeichnen. Der experimentelle
Geigenspieler Leo Brunschwiler streicht dann in der morgendlichen Übung
die feinen Papiere wie die Saiten seines Instruments: Arbeit kündigt sich
an mit Kratzen, Schleifen, Schlipfen, Klopfen, Vibrieren, Einziehen und
Ausholen als stundenlange Vorbereitung für den späteren Gang in die
grösseren Flächen und schliesslich in den Raum, etwa in seine
grossformatigen Wandzeichnungen im Untergeschoss der Tonhalle St.
Gallen.

Zeichnungen verarbeiten die unenrwartet-vertrauten wie zufälligen Bilder
und Notationen der vielschichtigen Klangwelten. Als Betrachter der
Zeichnungen von Leo Brunschwiler vernehmen wir solche den Tag
einleitende Früh- und 'Abfalltöne', vergleichbar etwa mit jenen in der
Musik von Helmut Lachenmann. Striche oder nur flüchtige Berührungen
tragen Grafit, Blei und ölige Paste als sparsame Partituren auf die
Flächen. Feines und Hingehauchtes wechseln mit kraftvollen Gesten.
Oder Brunschwiler bohrt einen schwarzen Farbstift in die dicke Ölkreide
und lässt dann im flüchtigen Weg auf dem Papier 'Material' liegen,
Nuancen von Weiss, Silber bis Schwarz, oft auch Rot, Blutrot, rouge sang
schliesslich als stärkste Energie. Über Unbestimmtem und Fragilem
scheint sich da plötzlich ein cantus firmus zu bündeln, während anderswo
ein vorwärtsdrängendes fugato das beflügelte Improvisieren, den
expressiven Überschwang, zur Ordnung zwingt. Jedes dieser kleinen
Blätter - sie messen in der Regel lediglich elf auf sieben Zentimeter - birgt
in sich eine autonome Kraft von stets varierenden Stimmungen,
Erregungen, Überreizungen, Geräuschen und Bewegungen'
Zeichnung versteht sich da als motorische und auch intime Übung - nach
eigenen Worten - als eine Art Exerzitien. Oft reiht der Künstler dann
Hunderte dieser kleinformatigen, auf gerissenem Transparentpapier
hingesetzten Zeichnungen wie aufgespiesste Insekten an die Wand. Das
Komplexe solcher, von der Wand leicht abgehobenen
Zeichnungsskulpturen baut sowohl auf Zufall als auch auf Komposition.
Bei der kleinsten Luftbewegung kommen diese Zettelwände ins Schaukeln
und Vibrieren. So entsteht eine Art kinetische Bildform, die in der
abtastenden Betrachtung Tonabfolgen erfahren lässt. Analogien zum
Zeitmoment der Musik klingen an.

Den Maler 'Sternbald' lässt Ludwig Tieck (Berlin, 1773-1853) in seinem
gleichnamigen literarischen Werk bei der Betrachtung des leuchtenden
Abendhimmels ausrufen: ,,Wenn ihr doch diese wunderliche Musik, die der
Himmel heute dichtet, in eure Malerei hineinlocken könntet." Den
romantischen Traum haben spätestens abstrakte Maler wie Kandinsky -
er aufbauend auf den immateriellen ,,Bildern" Schönbergs - in Klangfarben
zu übertragen verstanden. Der synästhetische Ansatz in den Zeichnungen
wie Wandbildern von Leo Brunschwiler kennt Lauschen und Schreien,
Zirpen und Hupen, Hüpfen und Trauern, Auffahrten und Grablegungen,
die Leichtigkeit der Serenade wie das Tragisch-Schwere von Mahlers
Sechsten, die Nocturne wie die Lichtung in der Passionsmusik.
Entstehung und Zuordnung der Zeichnungen in diesem Programmbuch
sind nicht ganz zufällig, sondern selbst ein kompositorischer Akt des
Künstlers.

Peter Röllin, Kulturwissenschaftler - 24.01.1999

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